Im Erwachsenenschutzrecht ist geregelt, was gelten soll, wenn jemand nicht (mehr) in der Lage ist, für sich selber zu sorgen. Ziel der Gesetzesrevision ist, grösstmögliche Selbstbestimmung zu gewähren. Die Umsetzung ist gar nicht so einfach, wie der Blick hinter die Kulissen zeigt.

Ein Bewohner, der vor einigen Monaten bei den Eltern ausgezogen ist und jetzt in der arwo Stiftung lebt, will nicht mehr wie am Anfang jedes zweite Wochenende nach Hause. Ein anderer Bewohner möchte nicht nur an einem Ferienlager, sondern an mehreren teilnehmen. Eine Bewohnerin hat selber Kleider bestellt, ihr neuer Stil hebt sich deutlich von dem ihrer Mutter ab. Eine weitere Bewohnerin möchte ihre Haare wachsen lassen – ihre Eltern finden kurze Haare praktischer. Ein Bewohner mit leichtem Übergewicht möchte sich beim Mittagessen eine zweite Portion schöpfen. Es regnet in Strömen und ein Mitarbeiter kommt im T-Shirt zur Arbeit. Das alles sind Beispiele mit Konfliktpotenzial aus dem Alltag der arwo Stiftung. Wann, was und in welchem Mass die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen mit kognitiver Beeinträchtigung selbst bestimmen können – oder eben nicht, ist rechtlich geregelt. Und zwar im neuen Erwachsenenschutzrecht, das Anfang 2013 in Kraft trat und das über 100-jährige Vormundschaftsrecht ablöste.

Vergleicht man die Regelungen vor und nach der Gesetzesänderung, stellt man insbesondere fest, dass in der aktuellen Gesetzgebung mehr Gewicht auf Selbstbestimmung gelegt wird. Diese soll «grösstmöglich» gewährt werden. Die Behörden schauen immer genauer hin, ob eine Person in einer Sache urteilsfähig ist, sie also in der Lage ist, eine Situation zu beurteilen, vernünftige Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln. Dann nämlich ist sie spätestens bei der Volljährigkeit handlungsfähig. Erst wenn eine Person in einem oder mehreren Bereichen aufgrund einer «geistigen Behinderung oder einer psychischen Störung», wie es wortwörtlich heisst, nicht (mehr) urteilsfähig ist, kommt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) ins Spiel. Die Person bekommt Unterstützung durch eine Beistandschaft. Davon gibt es verschiedene Arten, je nachdem, wie viel Unterstützung jemand in einem Bereich braucht. In der Begleitbeistandschaft entscheidet die Person immer noch selbst und wird lediglich beraten. Bei einer Vertretungsbeistandschaft übernimmt der Beistand anstelle der Person die rechtliche Vertretung. Die Mitwirkungsbeistandschaft ist eine Mischung davon: für bestimmte Handlungen braucht es die Zustimmung der Beistandsperson. Am wenigsten selbst bestimmen kann eine Person, die umfassend verbeiständet ist – sie ist fast in allen Bereichen handlungsunfähig.

Mit diesem Fokus auf möglichst viel Selbstbestimmung hat die KESB nach der Gesetzesrevision alle vormundschaftlichen Massnahmen neu beurteilt. Und zwar nicht einfach pauschal, sondern jeden einzelnen Bereich. Das hat seinen Grund: Die meisten kognitiv oder psychisch beeinträchtigten Menschen brauchen nicht in allen Lebensbereichen gleich viel Unterstützung. Und auch nicht immer ihr Leben lang, sondern je nach Beeinträchtigung auch nur vorübergehend. Die KESB legt in der Ernennungsurkunde fest, in welchem Lebensbereich die Person Unterstützung braucht und beauftragt den Beistand mit der entsprechenden Aufgabe. In allen anderen Bereichen können die Personen selbstständig entscheiden. Als Folge gibt es heute immer weniger umfassende Beistandschaften. Von den in der arwo lebenden und arbeitenden 273 Menschen mit Beeinträchtigung haben nur gerade 77 von ihnen eine umfassende Beistandschaft. Es sind vor allem die stark und mehrfach beeinträchtigten Menschen. 114 Personen haben in Teilbereichen eine Beistandschaft und 82 sind ganz selbstständig und somit voll handlungsfähig.

Wurden früher vorwiegend nahe Angehörige als Beistände eingesetzt, gibt es heute immer mehr Berufsbeistände. Beides hat Vor- und Nachteile, sagt Silvia Krüsi. Sie hat selbst jahrelang als Berufsbeiständin gearbeitet und leitet heute den Sozialdienst der arwo Stiftung, wo sie Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen berät. «Eltern haben eine enge Beziehung zu ihrem Kind und kennen es gut. Das kann ein grosser Vorteil sein, führt aber unter Umständen auch zu Interessenkonflikten oder verhindert die Erweiterung von Kompetenzen», sagt sie. Manche Eltern übernähmen Aufgaben ihrer Kinder, die diese eigentlich selbstständig erledigen könnten.

Eine gute Möglichkeit sei die Aufteilung der Beistandschaft zwischen Angehörigen und Berufsbeiständen. So können die Angehörigen beispielsweise für das Wohnen, die Gesundheit und die persönliche Kontaktpflege zuständig bleiben, und die finanziellen und administrativen Belange werden einem Berufsbeistand übertragen. «Die zum Teil komplexen Sachverhalte der Finanzen und der Sozialversicherungen werden meist im Hintergrund durch Sachbearbeitende des Sozialdienstes erledigt», weiss Krüsi. Das Budget wird vom Berufsbeistand erstellt und persönliche Ausgaben können nur nach den Möglichkeiten des Budgets bewilligt werden. «Dadurch gibt eine Entflechtung von Finanzen und Beziehung.»

Die am Anfang erwähnten Beispiele zeigen, dass es in Sachen Selbstbestimmung weit mehr als um Finanzen und Beistandschaften geht. «Und auch wir als Stiftung haben bei der Umsetzung des Erwachsenenschutzrechts noch Handlungsbedarf», sagt arwo-Geschäftsführer Roland Meier. Auch intern will man deshalb die Verantwortlichen darauf sensibilisieren und schulen, damit klar wird, was gemäss neuem Gesetz in die Kompetenzen der Beistände fällt und wo die Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen selbst entscheiden und mitbestimmen können.