Sonam Surkhang und Doris Lüthi haben den Wechsel von Fürsorge zu Selbstbestimmung gemeinsam miterlebt: in der Rolle als Bewohnerin und als Betreuerin.
«Freiheit», schreibt Sonam Surkhang mit Kugelschreiber aufs Papier, das Doris Lüthi ihr hingelegt hat. Sie hat nicht verstanden, was der Bewohnerin in der Wohngemeinschaft am besten gefällt, und bittet sie, es aufzuschreiben. «Ah, die Freiheiten, die du hier hast. Ja, du bist gerne selbstständig unterwegs und kochst gerne selbst.» Sonam Surkhang nickt strahlend und beginnt gestikulierend zu erklären, dass sie sich ab und zu selbst Rühr- oder Spiegeleier kocht. Eine sprachliche und kognitive Beeinträchtigung führt dazu, dass Aussenstehende nur bruchstückhaft verstehen, was die 52-Jährige sagt. Nicht so Doris Lüthi: Sie versteht vieles. Das hat einen guten Grund: Die beiden kennen sich seit 27 Jahren.
Als Sonam Surkhang 1996 von daheim ins Wohnheim der arwo Stiftung zog, hatte Doris Lüthi gerade ihren Job als Dentalassistentin an den Nagel gehängt und begann als Quereinsteigerin in der arwo zu arbeiten. Es gefiel ihr so gut, dass sie sich an der Fachschule für sozialpädagogische Berufe zur Behindertenbetreuerin weiterbildete. Die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch. «Du super», sagt Sonam Surkhang, die tibetische Wurzeln hat, und nickt eifrig mit den Kopf. «Danke Sonam», antwortet Doris Lüthi und strahlt ebenfalls.
Sonam Surkhang wäre gerne von Anfang an in eine Wohngemeinschaft gezogen, wo sie selbstständiger leben kann. Regelmässige epileptische Anfälle verunmöglichten dies. Erst als die Medikamente optimal eingestellt werden konnten, nahmen die Anfälle ab und sie konnte vom Wohnheim in eine Wohngemeinschaft ziehen. Damit trennten sich auch die Wege der beiden Frauen. Jedoch nicht für immer: Nach einer einjährigen Auszeit kam Doris Lüthi 2013 in die arwo zurück, wechselte in die Aussenwohngruppe, wo Sonam Surkhang bis heute lebt. Zwar habe sich die 54-jährige Betreuerin auch schon überlegt, mal etwas anderes zu arbeiten oder die Stiftung zu wechseln. Sie komme aber immer wieder zum Schluss, dass die Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung einfach ihre Berufung sei, was ihr gefalle. «Ich habe ein tolles Team, einen schönen
hellen Arbeitsplatz in einer fortschrittlichen Stiftung», sagt sie, blickt zu Sonam Surkhang und sagt mit einem Lächeln: «Ich mag ihre Echtheit, es kommt so viel zurück von den Menschen die hier leben.» Auch wenn Sonam nicht mit Worten antwortet, so spricht ihr Strahlen Bände.
Heute stehen die
individuellen Bedürfnisse im Zentrum
Doris Lüthi
Den Bewohner*innen so viel Freiheit und Individualität wie möglich zu geben, das sei mittlerweile in der ganzen Stiftung normal. «Früher ging es noch viel mehr ums Gemeinschaftswohl, heute stehen die individuellen Bedürfnisse im Zentrum.» Als einfaches Beispiel nennt sie das Frühstück: Einst hätten morgens alle zur gleichen Zeit dasselbe gegessen und getrunken. «Heute essen einige gemeinsam Frühstück und andere verzichten oder trinken nur einen Kaffee. Alles ist möglich.»
Was hat sich noch verändert? Sonam nimmt ihr Handy, öffnet eine App und tippt das Wort Fasnacht ein. Sie kann Symbole anklicken und sich mit Bildern statt Lauten ausdrücken. Für sie ist der Fortschritt der Technik ein Segen. Mit dem Computer kam auch das einheitliche Dokumentieren, und in Konzepten werden Haltungen und Ziele festgehalten. Das habe auch in der arwo für Fortschritt und Klarheit gesorgt, findet Doris Lüthi. «Obwohl der grössere administrative Aufwand auch eine Herausforderung ist.»
Guggenmusik ertönt. Sonam war am Samstag mit zwei Mitbewohnern an der Fasnacht und zeigt auf dem Handy das Video, das sie aufgenommen hat. «Früher hätten die Bewohner*innen kämpfen müssen, alleine hinzugehen, weil die Betreuer*innen Angst hatten, es könnte etwas passieren. Auch heute spricht man sich ab, doch es ist klar, dass sie gehen dürfen», erklärt Doris Lüthi die heutige Haltung in Bezug auf Fürsorge und Selbstbestimmung. Sie ist ganz im Sinne von Sonams Drang nach Freiheit. (bär)