Um Fälle von Gewalt und Missbrauch so gut wie möglich zu verhindern, setzt die arwo bei der Prävention an. Hierzu wurde das Konzept überarbeitet und Schulungen für alle durchgeführt.

«Die Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung ist zu einem wesentlichen Teil Beziehungsarbeit.»

Dies sagt John Green, Leiter Agogik in der arwo Stiftung, und fügt an: «Das führt zu körperlicher und emotionaler Nähe und somit zu einem erhöhten Risiko von Übergriffen unterschiedlicher Art.» Um das Risiko zu minimieren, wurde in der Stiftung vor mehr als 20 Jahren ein Konzept für den Umgang mit Gewalt und Missbrauch entworfen und eine Meldestelle eingerichtet. Kam es zu Vorfällen, mussten diese dort gemeldet werden. Im Jahr 2021 gingen total 32 Meldungen (2020: 28) ein und betrafen hauptsächlich Gewalt, ausgehend von Menschen mit Beeinträchtigung. «Ein Bewohner, der aus Frust einen Mitbewohner oder Angestellten beschimpft oder schlägt», nennt John Green ein typisches Beispiel.

Im vergangenen Jahr wurde das Konzept von einer Arbeitsgruppe total überarbeitet. Das Meldeformular wurde vereinfacht sowie eine systematische Nachbearbeitung und die Kontrolle der beschlossenen Massnahmen aufgenommen. Im überarbeiteten Konzept wurden auch die Schweregrade der Übergriffe unterteilt: von alltäglichen Situationen, Grenzüberschreitungen, schwerwiegenden Übergriffen bis hin zu massivem Übergriff.

Auch die verschiedenen Arten von Gewalt werden darin klar definiert. Neben physischen und psychischen Übergriffen gibt es auch strukturelle und kulturelle Übergriffe, also beispielsweise das Verweigern von Rechten. Diese können durch unreflektierte, starre Regeln, zu wenig Personal oder unzulängliche Infrastruktur entstehen: Ein Bewohner, der nicht selbst bestimmen darf, was er anzieht, wann er am Wochenende aufsteht oder wie viel er isst. Als Folge lernen diese Menschen kaum, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, und schon gar nicht, sie durchzusetzen. Sie sind somit leichter manipulierbar und werden einfacher zu Opfern von Gewalt. Auch von sexueller Gewalt. Laut den Fachstellen Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung vahs und Limita liegt die Häufigkeit erzwungener sexueller Handlungen bei Frauen mit kognitiver Beeinträchtigung im Erwachsenenalter bei 21 bis 43 Prozent. Die Fachstellen beziehen sich auf Zahlen des WHO.

Rund ein Drittel dieser Übergriffe finden im institutionellen Umfeld statt. Glaubt man den Zahlen, muss es eigentlich in jeder grösseren Institution zu sexuellen Übergriffen kommen. Gemeldet oder bekannt sind aber kaum Fälle. «Auch bei uns nicht», sagt John Green, der sexuelle Ausbeutung «die Spitze des Eisbergs» nennt. Um diese Thematik anzugehen, setzt er ganz unten an, bei der Prävention und einer transparenten, offenen Haltung. «Vielleicht ist es auf den ersten Blick nicht so schlimm, wenn jemand nicht darüber bestimmen kann, wann er aufsteht oder was er isst. Doch über Menschen zu verfügen, sie nicht selbstbestimmt leben zu lassen, ist der Nährboden für Übergriffe. Es erschwert Bewohner*innen, sich zu wehren, und begünstigt Täter*innen.» Mit dem neuen Konzept, auf das alle geschult werden – auch Angestellte ohne Betreuungsaufgaben –, will die arwo bei den Angestellten das Bewusstsein schaffen, was übergriffig ist. Ebenso, dass das eigene Handeln und das der Kolleg*innen hinterfragt werden darf, ja sogar hinterfragt werden muss. Arbeitskolleg*innen zu fragen, wieso sie einer Bewohnerin einen zweiten Teller Essen verweigerten oder warum sie die Türe beim Abendritual schliessen, brauche am Anfang Mut. «Doch wenn wir das hinkriegen, es als normal angesehen und nicht als Affront verstanden wird, dann haben wir das höchste Mass an Prävention erreicht und somit auch das Ziel des neuen Konzepts», sagt John Green.

Wie wichtig eine Haltung des Hinschauens ist, weiss Karin Bächtold aus eigener Erfahrung. Bevor die Fachangestellte Betreuung vor knapp sechs Jahren in die arwo wechselte, war sie in einer der Stiftungen tätig, in der der als Hansjürg S. in den Medien bekannt gewordene Betreuer arbeitete. Er missbrauchte während seiner Tätigkeit von 1982 bis 2011 in neun Heimen über 120 Menschen mit Behinderung. «Ich finde es wichtig, dass man sensibilisiert und dadurch besser hinschaut. Allenfalls hätte man dadurch diesen Fall verhindern oder zumindest schneller aufdecken können.» Sie schätzt Schulungen, wie sie in der arwo stattfinden. «Uns wurde nicht nur das systematische Verhalten von Täter*innen aufgezeigt, sondern auch das heikle Thema der Vorverurteilung, welche auch ein Leben zerstören kann.»

Auch John Green ist überzeugt, dass Hinschauen als Prävention wirkt. «Eine Person, die Menschen missbrauchen will, möchte sich dabei nicht erwischen lassen. Durch das Hinschauen, Nachfragen und Ansprechen durch Arbeitskolleg*innen kann verhindert werden, dass solche Missbrauchsvorhaben umgesetzt werden», ist Green überzeugt. Neben dieser präventiven Haltung werden in der arwo regelmässige Schulungen zum Thema durchgeführt. Nicht nur für die Angestellten, sondern auch für die Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen mit Beeinträchtigung: In leichter Sprache werden sie auf ihre Rechte aufmerksam gemacht und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Dies soll auch durch Weiterbildung erreicht und unterstützt werden. So führt der Verein «sebit» diesen Spätsommer das Bildungsangebot «Grenz-Verletzung?! – Dort mache ich Meldung!» in der arwo durch. Sie lernen, eigene Grenzen zu erkennen, was eine Grenzverletzung ist und wo man sich in einem solchen Fall hinwenden kann.