Seit 23 Jahren gibt es in der arwo den Sozialdienst. Bewohnende, Mitarbeitende und deren Angehörige können sich bei Bedarf von einer Fachperson zu alltäglichen, administrativen, finanziellen sowie rechtlichen Themen beraten und unterstützen lassen. Diese interne Anlaufstelle ist ein kostenloses Angebot, das im Jahr 2000 von Manfred Wullschleger (68) aufgebaut und bis zu seiner Pensionierung geführt wurde. Zuvor arbeitete er sechs Jahre als Sozialpädagoge im Wohnbereich der arwo und liess sich später berufsbegleitend zum Sozialarbeiter weiterbilden. Seit zweieinhalb Jahren wird die Fachstelle von Renate Burri (56) geführt. Die ausgebildete Sozialarbeiterin hat zuvor 18 Jahre lang als Berufsbeiständin beim Kindes- und Erwachsenenschutzdienst (KESD) Bezirk Baden gearbeitet.
Wieso hat die arwo Stiftung vor 24 Jahren überhaupt einen Sozialdienst aufgebaut? Manfred Wullschleger: Ende der 90er-Jahre nahm die Komplexität der Lebenssituationen von Klientinnen und Klienten zu. Es gab mehr Mitarbeitende mit Migrationshintergrund, die Anforderungen der Eltern und Gesetzesvertreter wurden anspruchsvoller. Insbesondere Klienten, die nicht in einer Institution lebten, brachten Alltagsproble an den Arbeitsplatz. Mit der Einführung des Sozialdiensts erhielten Klienten eine Anlaufstelle für ihre persönlichen Fragen und Anliegen. Die Angestellten im Wohn- und Arbeitsbereich wurden so gleichzeitig entlastet. Ich habe auch Anfragen für Arbeits- und Wohnplätze für Klienten entgegengenommen und bearbeitet.
Fand man damals genügend Menschen mit Beeinträchtigung, die an geschützten Arbeitsplätzen (GAP) arbeiten wollten? Manfred Wullschleger: Ja, problemlos. Es gab Gruppen mit 20 Klienten. Das änderte sich, als die Invalidenversicherung (IV) Ende der 90er-Jahre und zu Beginn der 2000er-Jahre wegen sogenannten Scheininvaliden unter Druck geriet und die Hürden bei der Rentensprechung massiv erhöhte. Der Bezug einer IV-Rente ist die Voraussetzung, um einen geschützten Arbeitsplatz zu erhalten.
Renate Burri: Heute können wir nicht mehr alle GAP-Plätze besetzen. Die Nachfrage ist massiv gesunken. Für IV-Bezüger bestand nie ein Arbeitszwang, sie erhalten das Geld der IV und die Ergänzungsleistung sowieso. Trotzdem waren früher die meisten arbeitstätig. Heute gibt es immer mehr IV-Bezüger, die gar nicht oder nur noch Teilzeit arbeiten wollen.
Was sind die Gründe? Renate Burri: Sie wohnen beispielsweise selbstständig, haben einen Hund oder andere Beschäftigungen, die Zeit beanspruchen. Sie brauchen die Tagesstruktur des Arbeitsplatzes nicht mehr, sie sind auch sonst beschäftigt und ausgelastet.
Manfred Wullschleger: Früher arbeiteten viele aufgrund des Drucks der Angehörigen oder der Gesellschaft. Es war normal, dass man arbeitet. Es gab nur wenige Leute, die sich nicht in dieses Schema pressen liessen.
Renate Burri: Heute sehen Menschen mit Behinderung, wie Kollegen den Arbeitsplatz oder Arbeitgeber wechseln, und tun das auch. Sie bewerben sich in anderen Stiftungen oder wechseln intern.
Manfred Wullschleger: Das erlebte ich am Anfang selten. Die gesellschaftliche Veränderung führt dazu, dass sich auch die Menschen mit Behinderung nicht mehr alles gefallen lassen, selbstbewusster werden und sich für ihre Bedürfnisse einsetzen und selber Entscheidungen treffen.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen, die auch in der Behindertenbranche nicht Halt machten, gehen Hand in Hand mit gesetzlichen Neuerungen. Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR), das 2013 in Kraft trat, sprach Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung zu. Erinnern Sie sich an die Umsetzung?
Manfred Wullschleger: Am Anfang merkte man nicht viel. Es braucht Zeit, um dieses neue Verständnis von Unterstützung zu etablieren. Es ist ein zweischneidiges Schwert, da man auf die Zusammenarbeit aller angewiesen ist. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Mann, der bei uns arbeitete und bei seiner Mutter wohnte. Er wäre gerne in eine Wohngemeinschaft gezogen und hätte sich da so auch in der Persönlichkeit und Selbstständigkeit weiterentwickelt. Doch seine Mutter war dagegen. Vom Gesetz her war der Fall klar; der Mann kann selbst bestimmen. Doch der Sohn wurde stark von den Bedenken der Mutter beeinflusst, die sich um ihren Sohn sorgte und es im Grunde genommen ja nur gut meinte.
Renate Burri: Auf dem Papier ist es massgeschneidert und einfach, doch die Realität ist komplexer.
Manfred Wullschleger: Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir als Fachpersonen die Entstehung des KESR mitverfolgt haben, involviert waren und die Vorzüge sehen. Die Angehörigen waren hingegen plötzlich mit einem neuen Gesetz konfrontiert, das ihren Kindern mehr Selbstbestimmung gibt und ihnen auf den ersten Blick vielleicht bedrohlich vorkam.
Könnt ihr ein paar Beispiele nennen, wie sich das KESR in Sachen Selbstbestimmung im Alltag auswirkt? Renate Burri: Für uns selbstverständliche Dinge wie Kleider selbst aussuchen, selbst entscheiden, ob man an Gruppenferien teilnimmt oder nicht, wann man daheim auszieht. Insbesondere kognitiv stärkere Klienten wissen um ihre Rechte und setzen sich dafür ein. Kürzlich erhielt ich die Anfrage einer Wohngruppe: Ein Bewohner wollte Cola trinken, die Mutter bestand aber darauf, dass er Wasser trinkt, damit er nicht zunimmt. Die Fachangestellten sind im Clinch: Einerseits sind sie auf die gute Zusammenarbeit mit der Mutter angewiesen, andererseits wollen sie dem Bewohner die gesetzlich zustehende Selbstbestimmung gewähren. Ich versuche, zu vermitteln.
«Die Realität ist komplexer»
Wie? Renate Burri: Ich suche das Gespräch, zeige den Eltern auf, welche Freude es für ihr Kind wäre, an den Gruppenferien teilzunehmen und das erste Mal das Meer zu sehen. Oder dass es für sie als Eltern eine grosse Entlastung sein kann, wenn sich ein Berufsbeistand um die Finanzen und Administration ihres erwachsenen Kindes kümmert. Aber schlussendlich kann ich nur empfehlen und muss aushalten, wenn sie einen anderen Weg wählen. Mein Hauptanliegen ist die Unterstützung der Bewohnenden und Mitarbeitenden. Manchmal in ganz alltäglichen Sachen wie ein Gesuch mit ihnen auszufüllen, für sie eine Einsprache zu machen oder ihnen einfach zuzuhören, wenn sie Liebeskummer oder einen Konflikt am Wohn- oder Arbeitsplatz haben. Und um mich kommt man nicht herum, wenn man sich für einen geschützten Arbeits- oder Wohnplatz interessiert (lacht). (Melanie Bär)