Der Besuch bei Richard Meier beweist: Die gesellschaftlichen und gesetzlichen Veränderungen haben auch Einfluss auf die Wohn- und Arbeitsangebote von Menschen mit Beeinträchtigung.

«Das ist mein Zimmer», sagt Richard Meier und öffnet die Tür in sein Reich. Neben einer elektrischen Gitarre fallen darin ein Sessel, seine zahlreichen Schallplatten, CDs und ein Verstärker auf. «Ich höre gerne Musik», begründet der 61-Jährige und lacht. Er hört nicht nur gerne Musik, sondern musiziert und tanzt auch gerne dazu. Manchmal alleine und manchmal zusammen mit anderen Bewohner*innen, die mit ihm in der Wohngemeinschaft im Sulperg leben. Richard Meier nimmt eine alte Schallplatte aus dem Regal. Darauf sind die besten Lieder aus den Sechziger- und Siebzigerjahren aufgenommen, die «20 Golden Top Singles». Heute mag er nicht dazu tanzen und legt sie wieder zurück. Stattdessen nimmt er eine CD hervor, auf der er selbst abgebildet ist. Er sitzt vor dem Mischpult des Radiostudios «Kanal K». Nachdem Richard Meier die Scheibe in den CD-Player gelegt hat, ertönt über die Boxen seine Stimme: «Sali zäme, das ist das Wunschkonzert, am Mikrofon ist Richard.» Musik der australischen Hard-Rock-Band ACDC erklingt. Richard Meier mag diesen Musikstil. Die Aufnahme stammt von einem Besuch im Radiosender, wo er vor einigen Jahren an einem Wunschkonzert mitmoderieren durfte.

Hier in seinem eigenen Zimmer stört es niemanden, wenn Richard Meier Musik hört. Auch nicht, wenn er auf der Gitarre übt. «Ich habe die Nachbarn oben und unten gefragt», sagt er. Das war nicht immer so. Bis vor drei Jahren lebte Richard Meier im Wohnheim Kirchzelg, 22 Jahre lang. Einen Grossteil der Zeit hat er sein Zimmer mit einem anderen Bewohner geteilt. Dank des jetzigen eigenen Zimmers kann er nun abends länger aufbleiben, Musik hören oder lesen. Er fühlt sich sichtlich wohl in seinem neuen Daheim in der Wohnüberbauung Sulperg. Auch mit den anderen Nachbarn, die im Mehrfamilienhaus in Eigentums- und Mietwohnungen leben, hat er Kontakt. «Wir grüssen einander. Es gefällt mir hier und ich möchte nicht mehr wegziehen.»

Auf die Frage, ob er später einmal alleine wohnen möchte, antwortet er mit einem langgezogenen Nein. Er sei froh, im Alltag bei Bedarf Unterstützung zu erhalten. Und möchte Richard Meier mal seine Ruhe, dann zieht er sich in sein Musik-Reich, in sein eigenes Zimmer, zurück und entspannt sich in seinem Sessel.

Während er mit seinen 61 Jahren erst zweimal umgezogen ist, hatte er im Arbeitsbereich schon öfters das Bedürfnis nach Veränderung. Er war in verschiedenen Abteilung in der arwo Stiftung tätig und hat unterschiedliche Arbeiten ausgeführt. Wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, dass er heuer in der arwo sein 45-Arbeitsjahr-Jubiläum feierte. Angefangen hat Richard Meier 1976 mit einer internen Ausbildung in der Mechanikabteilung, der ersten Werkstatt, die die Stiftung damals eröffnet hatte. Später war er in der Schreinerei, der Verpackungsabteilung, in der Beschäftigung, im Werken und in der arwo-Laden-Boutique tätig. Heute arbeitet er im Atelier 4. Zu seiner Lieblingstätigkeit gehört das Vorlesen der Menükarte.

Meistens erfolgte der Wechsel auf eigenen Wunsch. In der Schreinerei hatte er irgendwann genug vom Staub, in anderen Abteilungen wurde es ihm irgendwann «zu viel», wie er die Arbeitsplatzwechsel begründet. Die letzte Veränderung erfolgte unfreiwillig nach der Schliessung der arwo-Laden-Boutique, wo er jahrelang gearbeitet hatte. «Da war ich schon ein bisschen traurig.» Trotzdem gefiel es Richard Meier von Anfang an auch am neuen Arbeitsplatz im Atelier 4 «sehr gut». Wo hat es ihm rückblickend am besten gefallen? Er überlegt. Nach einer Weile verzieht sich sein Gesicht zu einem Strahlen, er antwortet: «Dort wo ich jetzt bin.»

Seinen Bedürfnissen angepasst hat er auch das Arbeitspensum. Am Anfang arbeitete Richard Meier 100 Prozent und reduzierte sukzessive von 90, 80, 70 auf heute 50 Stellenprozent. Zurzeit arbeitet er nur noch morgens. Er isst mit seinen Arbeitskolleg*innen Zmittag, geht danach auf einen Schwatz im Büro des Leiters Agogik vorbei und wird dann um 13 Uhr vom Rotkreuz-Taxi vom Arbeitsplatz nach Hause gefahren. Denn nicht nur Veränderungen, auch Routine gehört zum Leben von Richard Meier. Hört man ihm zu, wenn er aus seiner Lebens-, Wohn- und Arbeitssituation erzählt, bekommt man den Eindruck, dass er ganz zufrieden damit ist. Darauf angesprochen, bejaht er, legt seine CD in die Sammlung zurück, geht vom Schlafzimmer in die Küche und drückt den Knopf der Kaffeemaschine. Mit der Tasse in der Hand setzt er sich aufs Sofa und geniesst den freien Nachmittag. (Text: Melanie Bär / Foto: Sandra Ardizzone)