Die arwo setzt auf Bildung, um dem Personalmangel entgegenzuwirken.
Unter anderem will sie Quereinsteiger unterstützen.

Donnerstagmorgen um acht Uhr während der Betriebsferien in der arwo. Die Werkstätten sind geschlossen, ebenso die meisten Büros der Verwaltung. Entsprechend ruhig ist es auch im Erdgeschoss des Hauptgebäudes. Anders im ersten und zweiten Stock, wo sich drei Wohngruppen befinden und an 365 Tagen 24-Stunden-Betrieb herrscht. Kathrin Basler sitzt im Pyjama auf dem Sofa. In der Hand hält die Bewohnerin ein Duschmittel. Heute muss sie etwas länger warten, bis ihr die Betreuerin beim Duschen hilft. Die Fachfrau arbeitet gerade alleine statt zu zweit auf der Wohngruppe Acasa. Im Notfall bekommt sie Unterstützung von Gruppenleiterin Graziella Staubli. Diese erledigt im Hintergrund Büroarbeiten, die sie immer wieder liegen gelassen hat, um auf der Gruppe auszuhelfen und die nun nicht mehr aufgeschoben werden können.

Ansprüche und Anforderungen steigen

Solche knappen Personalsituationen gibt es immer wieder. Sie alleine auf den Fachkräftemangel abzuschieben, wäre zu einfach, sagt Pius Alt, Abteilungsleiter des Wohnbereichs 1. «Wir müssen heute mit gleich viel Ressourcen einen höheren Bedarf abdecken», sagt er. Als Beispiel nennt er die zunehmende Pflegebedürftigkeit der älter werdenden Bewohnenden, die zu mehr Betreuungsaufwand führt. So kommt es, dass zum sowieso schon ausgetrockneten Arbeitsmarkt zusätzliches Personal gebraucht wird. Deshalb werden immer häufiger Quereinsteiger ohne Fachausbildung eingesetzt. Im Acasa ist knapp die Hälfte kein Fachpersonal, in anderen Gruppen liegt dieser Wert etwas tiefer.

Quereinsteiger aus vielen verschiedenen Branchen

Die Quereinsteiger im Acasa kommen unter anderem aus dem Gastgewerbe, Detailhandel, Dienstleistungssektor oder waren Handwerker. Graziella Staubli ist enorm dankbar, dass sich immer wieder Quereinsteiger finden, die mit Herzblut in den Sozialberuf wechseln und einen guten Job machen. Auch die 39-Jährige suchte nach der kaufmännischen Ausbildung eine berufliche Veränderung und wechselte zur Stiftung Pigna in Kloten. Doch ein beruflicher Quereinstieg bringt auch Herausforderungen mit. Die Ansprüche und Vorgaben in der Betreuung sind gestiegen. Ihnen gerecht zu werden, wird immer schwieriger. Das sich während einer Ausbildung angeeignete Fachwissen wird immer wichtiger. «Die fachliche Qualifikation und die Erfahrung geben Sicherheit und Klarheit», sagt Pius Alt. Deshalb seien Quereinsteiger bei Tätigkeiten, die über den Betreuungsalltag hinausgehen, auf fachliche Unterstützung des ausgebildeten Personals angewiesen. «Wir geben unser Fachwissen gerne weiter. Doch das braucht Zeit, die danach bei der Betreuung der Bewohnenden fehlt», sagt Graziella Staubli.

«Das Interesse, sich fachlich zu
qualifizieren ist insbesondere bei
jungen Fachleuten hoch.»

Pius Alt, Leiter Wohnen 1

Die arwo begrüsst es deshalb sehr, wenn sich Quereinsteiger weiterbilden, und unterstützt sie dabei. Im Frühjahr wurden die Ausbildungskonditionen verbessert. Ein namhafter Teil der Umschulungs- und Ausbildungskosten wird übernommen und unter gewissen Voraussetzungen wird dies auch an der Arbeitszeit angerechnet. Kürzlich wurde zudem ein Angebot für Quereinsteiger im Wohnbereich erarbeitet, von dem sich die arwo in Zukunft viel verspricht. «Wir gehen bei der Personalsuche neue Wege, arbeiten vermehrt mit Temporärbüros zusammen oder nutzen soziale Medien noch gezielter, um auf die arwo aufmerksam zu machen», sagt Heidi Suter, fürs Personal zuständiges Geschäftsleitungsmitglied, und fügt an: «Druck von aussen, politische und finanzielle Vorgaben, die ändern, der Anspruch an rasche Anpassungsfähigkeit, Klientel, die anspruchsvoller wird – unsere Angestellten sind vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt.» Die Personalchefin ist jedoch überzeugt: Stimmen Umfeld und die Wertschätzung, vermöge dies viel auszubalancieren. Ihrer Erfahrung nach sind insbesondere zwischenmenschliche Werte und Beziehungen zu Vorgesetzten und Arbeitskolleginnen und -kollegen wichtig, um an einer Arbeitsstelle zu bleiben.

Unregelmässige Arbeitszeiten

Ein Unternehmen kann dazu beitragen, dass diese Werte gelebt werden. Gegeben ist hingegen der Umstand, dass die Menschen in Wohneinrichtungen 365 Tage betreut werden müssen. «Das ist einer der Gründe, die von Fachleuten genannt werden, die eine neue Branche suchen», sagt Heidi Suter. Auch Lohn- und Nebenleistungen könnten nicht mithalten mit vielen anderen Branchen. Sozialberufe sind wegen fehlender Work-Life-Balance infolge Schicht-Arbeitszeitmodellen und kurzfristigen Planänderungen insbesondere für die junge Generation unattraktiv. So kommt es, dass die verbleibenden Angestellten Überstunden leisten, an Freitagen einspringen oder geteilte Dienste übernehmen müssen. «Für mich ist der grösste Frust, wenn ich den eigenen Erwartungen nicht gerecht werde und die Arbeit nicht so ausführen kann, wie ich es gerne tun würde und es gut wäre», resümiert Graziella Staubli.

«Ich möchte nicht mehr ins Büro
zurückwechseln.»

Graziella Staubli, Gruppenleiterin

Um die Betreuung im Falle von Personalknappheit trotzdem zu gewährleisten, wird in den Wohngruppen auch mal auf pragmatische Lösungen gesetzt. So kommt es vor, dass Bewohnende auf ein Freizeitprogramm oder einen Ausflug verzichten müssen oder das Essen fertig aus der Küche geliefert, statt selbst gekocht wird. «Einige reagieren verständnisvoll oder helfen sogar mit, andere antworten mit herausforderndem Verhalten.» Das wiederum verschärfe den Fachkräftemangel nochmals zusätzlich, weil zur Deeskalation oftmals eine Eins-zu-eins-Betreuung nötig sei.
Deshalb sei es so wichtig, auf Bildung zu setzen, findet Pius Alt: «Das Interesse, sich fachlich zu qualifizieren, ist insbesondere bei jungen Fachleuten hoch.» Auf der Gruppe Acasa sind zurzeit zwei Quereinsteiger im Aufnahmeverfahren für eine Sozialpädagogikausbildung an der Höhere Fachschule. Während der Ausbildung erhalten sie das Rüstzeug, um sich auch für besonders herausfordernde Situationen zu wappnen. So wie es Graziella Staubli nach ihrem Berufswechsel auch tat und heute sagt: «Es ist meine Berufung. Das Lachen, die Dankbarkeit und Ehrlichkeit der Bewohnenden sind Gründe, weshalb ich nicht mehr ins Büro zurückwechseln möchte – trotz 365-Tage-Betrieb.» (bär)