Sibylle Egloff, Limmatwelle

Jelena Dimitrijevic betreut Beeinträchtigte der Arwo Stiftung in Wettingen. Anlässlich des internationalen Tags der Menschen mit Behinderung am Samstag gibt die 20-Jährige Einblick in ihre Arbeit mit ihrer liebsten Klientin Pia Frei.

Pia Frei sitzt am Frühstückstisch und trinkt Kaffee. Sie bewegt ihre Faust zur Brust. «Das heisst gut», sagt Jelena Dimitrijevic. Auch für den Kaffee selbst gibt es ein Handzeichen. «Man fährt über die Nase und macht eine Trinkbewegung», erklärt Dimitrijevic. Die Fachfrau Betreuung unterhält sich mithilfe der unterstützten Kommunikation mit Pia Frei im Wohnheim Kirchzelg der Arwo Stiftung in Wettingen. «Pia ist seit Geburt gehörlos. Sie hat Spastiken und eine leichte kognitive Beeinträchtigung», erzählt Dimitrijevic.

Seit zwei Jahren begleitet sie die Menschen in der Wohngruppe Ancora, in der Frei zu Hause ist. Der Umgang mit der 76-Jährigen wirkt vertraut. «Pia versteht sehr viel. Sie überrascht mich immer wieder. Letztens sprachen meine Kolleginnen über einen Mann. Pia machte das dazugehörige Handzeichen, obwohl sie das Gespräch ja nicht mithören konnte. Wir waren baff», sagt Dimitrijevic.

Vor dreieinhalb Jahren startete die heute 20-Jährige aus Aarburg ihre Ausbildung bei der Arwo Stiftung, die sie im Sommer erfolgreich beendete. «Mein Onkel ist beeinträchtigt. Ich finde es schade, dass die Distanz zu Menschen mit Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft so gross ist.» Als Dimitrijevic in einer Institution schnupperte, merkte sie sofort: «Das ist mein Beruf.» Der soziale Kontakt und das Zwischenmenschliche reizen sie an ihrer Arbeit. «Ich könnte nicht den ganzen Tag auf der Computertastatur rumtippen.» Ihr Vater stand dem Berufswunsch zunächst skeptisch gegenüber. «Er hatte Bedenken, weil ich so klein und dünn bin», sagt Dimitrijevic und lacht. Doch als ihr Entscheid feststand, hätten ihre Eltern sie unterstützt. Mittlerweile blickt Pia Frei auf ihr iPad. Im Fotoalbum finden sich zahlreiche Bilder und Selfies mit Betreuerinnen und Betreuern. «Pia liebt es, Fotos mit uns zu schiessen. Zudem schaut sie gerne Videos und Filme auf Youtube an», weiss Dimitrijevic.

Sie erholt sich bei der Arbeit von ihrem stressigen Privatleben

Ihr gefällt der Mix aus strukturiertem und nicht strukturiertem Alltag. «Ich begleite die Bewohnerinnen und Bewohner zu ihren Therapien und Arztterminen. Trotzdem ist kein Tag wie der andere.» Das Grösste ist für Dimitrijevic, die kleinen Fortschritte der Bewohnerinnen und Bewohner zu sehen. «Auch wenn gewisse Klienten älter sind, können sie sich weiterentwickeln und Neues lernen. Für mich sind das Erfolgserlebnisse.» Ihre Arbeit gefällt ihr. «Hier fühlen und sehen mich die Menschen», sagt Dimitrijevic. Ihre Tätigkeit sei ein Ausgleich zu ihrem stressigen privaten Alltag. «Andere Leute erholen sich vom Arbeiten, ich erhole mich bei der Arbeit.»

Doch wie jeder Beruf habe auch ihrer Schattenseiten. «Die Unterbesetzung ist eine Belastung. Wir schaffen es, alle Leute zu duschen und Frühstück vorzubereiten, aber wir sind gestresst. Das ist nicht schön für unsere Klienten», sagt Dimitrijevic. Habe man genug Zeit, könne man besser auf die Menschen eingehen. «Jemand kann das Abendessen zubereiten, während jemand anders mit einer Person einen Abendspaziergang unternimmt. Die individuelle Begleitung ist so wichtig.» Unterdessen steht Dimitrijevic in Freis Zimmer. Auf dem Programm steht die Mundpflege. Frei fährt sich mit der Zahnbürste durch den Mund.

«Ein gepflegtes Äusseres ist Pia wichtig», sagt Dimitrievic, während sie Frei das Gesicht wäscht. Sie zeigt auf den offenen Kleiderschrank und die zahlreichen Ketten, die an dessen Türe hängen. «Pia wählt jeden Tag einen anderen Schmuck aus, sie weiss, was sie will und würde niemals an zwei darauffolgenden Tagen das gleiche anziehen», sagt Dimitrijevic und grinst Frei an. Die junge Frau zückt ein Buch, welches auf dem Nachttisch liegt. «Das ist Pias Piktoagenda. Darin kann sie Symbole einkleben und so ihre Woche Revue passieren oder planen. Das gibt ihr mehr Selbstbestimmung», sagt Dimitrijevic. Auch sie selbst hat Pläne. «Ich möchte Berufserfahrung sammeln und in zwei Jahren ein Studium in Sozialpädagogik starten», erzählt sie.

Dimitrijevics Ziel ist klar: Sie will Berufsschullehrerin werden. Damit sie sich das berufsbegleitende Studium finanzieren kann, ist sie fleissig am Sparen. «Auch um die Autoprüfung zu machen, damit ich meinen Arbeitsweg zeitlich verkürzen kann», sagt sie und lacht. Veränderungen stehen auch bei der Arwo bevor. Im Februar wird Dimitrijevic von der Wohngruppe ins Beschäftigungsatelier wechseln. «So erhalte ich auch Einblick in diesen Bereich.» Der Wohngruppe bleibe sie aber mit einem 20-Prozent-Pensum erhalten, sagt sie. «So kann ich weiterhin für Pia da sein.»

Pia Frei (l.) und Jelena Dimitrijevic.