Mit 26 Jahren zog Pascal in seine erste Wohnung. Die Revision des Betreuungsgesetzes, die im Aargau Anfang Jahr in Kraft trat, hat dies ermöglicht.

Mit 24 Jahren wünschte sich Pascal* nichts mehr, als daheim auszuziehen. Wie viele in seinem Alter träumte er von den eigenen vier Wänden. Nicht weil er sich bei seinem Vater und dessen Partnerin nicht wohlfühlte, sondern einfach, um «erwachsen zu werden», wie ihn sein Vater Boris Altherr zitiert. Ein Wohnheim oder eine Wohngemeinschaft war für Pascal nie eine Option. Viel Unterstützung braucht er nicht – ganz ohne kann der 26-Jährige aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung trotzdem nicht leben.

Bis Ende 2021 war es für Menschen wie Pascal kaum möglich, Unterstützungsleistungen ausserhalb einer stationären Einrichtung zu finanzieren. Das Assistenzmodell des Bundes greift erst, wenn der Unterstützungsbedarf mehr als 14,2 Stunden monatlich beträgt – bei Pascal sind es jedoch weniger. Hinzu kommt, dass er im Assistenzmodell zugleich Auftraggeber gewesen wäre. Pascal hätte also beispielsweise selbst Personal suchen, anstellen und abrechnen müssen. Bei seinem Entwicklungsstand und den schulischen Fähigkeiten, die etwa denen eines 12- oder 13-Jährigen entsprechen, ist das – wie bei vielen anderen kognitiv beeinträchtigten Menschen – ohne Hilfe nicht möglich.

«Mein Ziel ist, möglichst viel abzugeben, damit ich auch wirklich loslassen kann. Mein Sohn soll so selbstbestimmt wie möglich leben können»

Boris Altherr, Vater

Dank Inkrafttreten des revidierten Betreuungsgesetzes ist diese Lücke seit Anfang Jahr im Kanton Aargau geschlossen. Unabhängig des Grads der Beeinträchtigung können sich Menschen mit einer Beeinträchtigung an eine von vier Einrichtungen – HEKS, Learco AG, Stützpunkt Alltag oder Wendepunkt – wenden, damit der Traum vom selbstständigen Wohnen mit Unterstützungsbedarf wahr werden kann. Fachpersonen begleiten Menschen wie Pascal in der eigenen Wohnung bei der Alltagsbewältigung individuell – dort, wo Bedarf besteht. «Das kann beim Gesuchstellen und der Wohnungssuche beginnen und bei der regelmässigen Alltagsunterstützung weitergehen», sagt Patrick Roduner. Er ist Bereichsleiter des neuen Angebots «selbstständiges Wohnen» bei der Learco AG und unterstützt Pascal als Fachperson. Es sind kleine, aber wichtige Hilfestellungen: Der Sozialpädagoge begleitet ihn wöchentlich zum Einkauf und berät ihn in Sachen Haushalt und Sauberkeit. Im administrativen und finanziellen Bereich wird Pascal wie bis anhin von seinem Vater unterstützt, der auch sein Beistand ist. «Mein Ziel ist jedoch, möglichst viel abzugeben, damit ich auch wirklich loslassen kann. Mein Sohn soll so selbstbestimmt wie möglich leben können», sagt der 46-Jährige.

Alltägliches, wie beispielsweise Zugfahren, musste Boris Altherr seinem Sohn mit viel Geduld beibringen. Das hat die beiden zusammengeschweisst. Dementsprechend schwierig ist der Ablösungsprozess. Der alleinerziehende Vater bekommt auch heute noch viel mit, was das Loslassen auch im Erwachsenenalter erschwert. Etwa, wenn Pascal mal wieder nichts isst, weil er vergass, einzukaufen. Oder er die Katze seiner Freundin im ÖV transportieren will. Zu wissen, dass er von einer Fachperson Unterstützung bekommt, vereinfacht Boris Altherr den Prozess des Loslassens. «Diese neuen ambulanten Angebote sind etwas Gutes, das hätte man schon lange machen müssen», ist er überzeugt und fügt an: «und für den Staat ist es günstiger als das Heim.»

Bisher wurden stationäre Lösungen klar favorisiert.

Peter Walther, Abteilungsleiter BKS AG

Davon ist auch Peter Walther, Abteilungsleiter Sonderschulen, Heime und Werkstätten im Kanton Aargau, überzeugt. «Bisher wurden stationäre Lösungen klar favorisiert. Mit der Revision des Betreuungsgesetzes haben wir gleich lange Spiesse für stationäre und ambulante Angebote geschaffen. Letztere sind durchschnittlich auch günstiger.» Sparen könne der Kanton aber trotzdem nicht: «Wir gehen davon aus, dass der Bedarf steigt. Weil dieser durch die günstigeren ambulanten Angebote abgedeckt werden kann, entstehen jedoch keine höheren Gesamtkosten.»

Schliesslich will der Kanton nicht mehr Geld ausgeben und übernimmt die Kosten für die Betreuungsleistungen nur, wenn sie nicht über das Assistenzmodell des Bundes oder die Hilfslosenentschädigung der IV gedeckt sind. «Wir wollen nicht die Bundeskosten übernehmen, sondern nur die Lücke füllen, dort, wo bisher keine Kostenübernahme möglich war.» Geprüft wird das von der kantonalen Abklärungsstelle für individuelle Unterstützung (AIU), wo der ganze Prozess beginnt.

Wie alle, die eine solche Kostenübernahme wünschen, hatte auch Pascal bei dieser Abklärungsstelle einen Antrag zu stellen. Vorgängig musste er bei einer der vier Einrichtungen anfragen, ob sie die fachliche Begleitung übernehmen würden. Pascal entschied sich für die Learco AG, die ihm half, die erste Hürde zu überwinden: das Ausfüllen des Formulars. Denn obwohl dieses auch in leichter Sprache verfasst ist, muss man sich 45 Minuten lang durch das Online-Dokument klicken, etliche Fragen beantworten und Dokumente hochladen. Kein einfaches Unterfangen für eine Person, die Mühe mit Lesen hat. Patrick Roduner hat Pascal auch zum anschliessenden Gespräch bei der Abklärungsstelle begleitet und ihn beim Erstellen des individuellen Hilfsplans unterstützt.

Hätte sein Vater mit seinem Sohn vorgängig nicht schon selbst eine Wohnung gefunden, wäre er bei der Suche von Patrick Roduner unterstützt worden. «Das ist wichtig», findet Boris Altherr, «denn wir spürten bei den Hausverwaltungen viel Zurückhaltung, wenn mein Sohn sagte, dass er IV bezieht und Unterstützung braucht.» Den Zuschlag bekamen sie nur, weil sie den Vermieter kannten und der Vater einen Teil der Kosten übernimmt. Der Pascal zustehende Betrag reicht nicht für die ganze Miete. Dafür ist die Wohnung ideal gelegen: Pascal wohnt in der Nähe von Freunden, drei Minuten vom Geschäft und 15 Minuten vom Wohnort des Vaters entfernt. «Für meinen Sohn hat sich damit ein Traum erfüllt und deshalb ist es mir das wert», sagt Boris Altherr.

Die Teilrevision ermöglich auch Betreuungsleistungen bei der Arbeit im ersten Arbeitsmarkt. In diesem Artikel haben wir diesen Teil ausgeklammert und uns explizit auf den Bereich selbstständiges Wohnen bezogen.

* Name von der Redaktion geändert

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