Damals – heute: Der ehemalige Leiter des Wohnbereichs, Robi Schibler, und der heutige Gruppenleiter, Gyula Huber, tauschen aus.

Robi Schibler (70) war von 1995 bis 2016 Bereichsleiter des Wohn- bereichs. Vorher hat er bei der Stif- tung MBF, der Caritas Aarau und der Jugendarbeit Zürich gearbeitet. Ursprünglich hat er eine Konditor- lehre absolviert, die Matur nach- geholt und Sozialarbeit studiert.

Gyula Huber (31) arbeitet seit knapp 10 Jahren als Betreuer bei der arwo, seit 2,5 Jahren ist er Gruppenleiter der Wohngruppe Stöckli. Er hat eine Ausbildung als Fachangestellter Betreuung (FaBe) und als Tontechniker absolviert.

Als Sie im Jahr 1995 die Leitung des Wohnbereichs übernahmen, hatte die arwo noch zwei Fir- mennamen: Arbeitszentrum Wettingen und Wohnheim Kirch- zelg. Wie war die Zusammenar- beit? Robi Schibler: Eigentlich waren wir eine Firma, trotzdem arbeiteten wir zweigleisig. Niemand fand, es brauche Einheitlichkeit. Im Wohnbereich arbeitete man beispielsweise 45 Stunden, im Arbeitsbereich 41 Stunden. Der

Arbeitsbereich galt als Vorzeigebeispiel, auf den man stolz war. Wohnplätze hingegen musste man haben, wenn man Arbeitsplätze anbot, entsprechend stiefmütterlich wurde der Bereich behandelt. Das zeigte sich auch im Organigramm: Der Arbeitsbereich stand an oberster Stelle, der Wohnbereich war lediglich einer von fünf Unterbereichen. Die Betreuung wurde als «Frauenarbeit» abgewertet und hat- te damals keinen hohen Stellenwert.

Werden Menschen mit Beein- trächtigung heute immer noch vorwiegend von Frauen beglei- tet? Gyula Huber: Als ich vor 13 Jahren in den Beruf einstieg, war das noch so. In den letzten paar Jahren erlebte ich jedoch eine Öff- nung. Allerdings sind die Geschlechter in den Teams auch heute nur selten ausgeglichen. Ich

schätze, dass der Männeranteil im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent beträgt. Vielleicht liegt das am Urinstinkt von Frauen, dass sie in der Ten- denz fürsorglicher sind und sich gerne um Menschen kümmern.

Wann geschah der Paradigmen- wechsel? Robi Schibler: Mit der Pensionie- rung von Martin Finschi, dem ersten Geschäfts- führer, war 2001 die Pionierphase abgeschlossen. Es waren Eltern von Töchtern und Söhnen mit einer Behinderung, die den Betrieb gegründet und Riesiges geleistet hat- ten. Diese erste Phase war von Wachstum ge- prägt. Dann wurde die arwo aber zu gross, als dass sie wie am Anfang geführt werden konn- te. Der neue Geschäftsführer Alfred Isch schuforganisatorische Veränderungen. Er führte zum Beispiel eine Geschäftsleitung ein und baute das Qualitätsmanagement aus.

«Ziel ist, dank Digitalisierung mehr Zeit für den Klienten zu haben.»
Gyula Huber

Wie viel Bürokratie war damals von aussen vorgegeben? Robi Schi- bler: Wenn ich fünf Leute für eine neue Wohn- gemeinschaft hatte, dann suchte ich eine Woh- nung und Betreuungspersonal, erstellte ein Budget und schickte das an die zuständige Person in Bern. Die Plätze wurden immer be- willigt. Einmal im Jahr kam eine Person aus Bern vorbei und das wars dann. Als ich kam, organisierte sich jede Gruppe so, wie sie woll- te, und hatte ihr eigenes Konzept. Erst mit dem Aufbau des Qualitätsmanagements wurden einheitliche Vorgaben für alle geschaffen.

Wie ist es heute? Gyula Huber: Einheit- liche Konzepte sind normal und vieles ist digi- talisiert worden. Medikamente sind beispiels- weise erfasst und die Bestellung läuft automatisiert. Alle arbeiten mit einem einheit- lichen Klienteninformationssystem. Darin ist alles Wichtige festgehalten: Rapport, Kalender, Medikation, Instruktionstabelle usw. Früher hat man aufgeschrieben, was ein Klient den gan- zen Tag gemacht hat, um vor dem Kanton zu rechtfertigen, was wir leisten. Davon kam man weg. Heute schreibt man ins System, was der nächste Mitarbeiter wissen muss, damit er sei- ne Arbeit ausführen kann. Ziel ist, dank Digita- lisierung mehr Zeit für den Klienten zu haben.

Eine grosse Veränderung ist auch die Umsetzung des neuen Erwach- senenschutzgesetzes … Gyula Huber: Als ich in der Wohngruppe Stöckli zu arbeiten begann, hing ein Plakat im Wohnzimmer. Dar- auf waren alle Bewohnerinnen und Bewohner aufgeführt und es war vermerkt, wer wie viel Brot, Käse und Fleisch zum Morgenessen be- kam. Wer ein bisschen weniger wog, bekam mehr als die Person mit Übergewicht. Es war ganz klar, dass die Betreuer vorgaben, was die Klienten dürfen und was nicht. Davon kam man weg. Fürs Personal war es eine grosse Umstel- lung und Herausforderung. Für die Bewohner ist es ein guter Umbruch zu mehr Lebensquali- tät. Ich finde es super, wie es heute gemacht wird.

«Eigentlich waren wir eine Firma, trotz-

dem arbeiteten wir zweigleisig.»
Robi Schibler

Wie zeigt sich die erhöhte Lebens- qualität? Gyula Huber: Als das Essen be- grenzt wurde, haben die Bewohnenden im Versteckten Essen gehortet und überkompen- siert. Seit wir den Kühlschrank offen halten, hat das aufgehört. Es zeigt sich sogar beim Ge- wicht, viele haben abgenommen.

Robi Schibler: Ein grosser Teil kann die Verant- wortung übernehmen, es gibt aber auch Aus- nahmen, die diese Selbstkompetenz nicht ha- ben.

Gyula Huber: Wir schauen, ob sie abschätzen können, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Aber auch Menschen ohne Behinderung wis- sen oftmals, dass ihnen etwas nicht guttut und tun es trotzdem. Und da würde ja auch niemals jemand auf sie zugehen und es ihnen verbieten.

Robi Schibler: Wir gerieten früher manchmal in einen Konflikt zwischen gesetzlichen Vertre- tern und Klienten. Ich erinnere mich an einen über 80-jährigen Vater, der jeden Sonntag sei- ne Tochter auf der Wohngruppe ins Bett brach- te. Wir merkten, dass sie das nicht mehr wollte,

und versuchten, das dem Vater, der es ja ei- gentlich nur gut meinte und immer so gemacht hat, verständlich zu machen. Solche Themen habt ihr ja wahrscheinlich heute noch genau- so?

Gyula Huber: Ja, aber wir haben heute den Vor- teil des Erwachsenenschutzgesetzes, das uns klar vorgibt, im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner zu handeln.

Personalmangel ist heute ein omni- präsentes Thema. War es das schon immer? Robi Schibler: Ja, das zog sich durch. Sozialpädagoge konnte man nur auf dem zwei- ten Bildungsweg werden. Und für Betreuer gab es keine Ausbildung. Es wurden Personen rek- rutiert, die aus einem verwandten Beruf wie etwa der Krankenpflege kamen. Um etwas gegen den Personalmangel zu tun, wurde um die Jahrtausendwende die Lehre «Fachperson Betreuung» (FaBe) und «Fachperson Gesund- heit» (FaGe) geschaffen. Ich erinnere mich noch, wie wir den Beruf damals an der Berufs- schau in Lenzburg zum ersten Mal präsentiert haben.

Trotz zusätzlicher Ausbildung – es fehlen auch heute Betreuerinnen und Betreuer? Gyula Huber: Ja, es ist ein Auf und Ab. Im Frühjahr konnten wir eine 60-Prozent-Stelle monatelang nicht besetzen, obwohl wir auch offen für Quereinsteiger sind. Die Ausbildung ist wichtig, aber in erster Linie kommt es auf den Menschen an und auf die Zusammensetzung des Teams. Lieber arbeite ich für ein paar Monate über mein Pensum hinaus, als jemanden anzustellen, der nicht passt und die ganze Teamkultur zerstört.

Robi Schibler: Das ist auch meine Erfahrung. In 80 Prozent der Fälle hat es sich gerächt, unter Druck jemand anzustellen, der nicht gut ist oder nicht passt. Übrigens: In diesem Raum hier hatte ich mein Vorstellungsgespräch. 12 Personen haben mich gelöchert, vom Stiftungs- rat bis zu den Abteilungsleitern (lacht).

(Melanie Bär)