Kinder benutzen sie beim Singen, Gehörlose um sich mitzuteilen. Auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung helfen Handzeichen, um das Gesprochene besser zu verstehen. Vor fünf Jahren wurden verschiedene Gebärden vereinheitlicht. Martina Bolli setzt sich in der arwo dafür ein, dass Handzeichen mehr angewendet werden.

«Musst du aufs WC?», fragt Martina Bolli einen Bewohner und legt ihre Hand auf ihren Bauch oberhalb der Blase. Der Bewohner ist zwar nicht gehörlos und trotzdem hilft dem kognitiv beeinträchtigten Mann die Handbewegung, um besser zu verstehen, was seine Betreuerin mit ihrer Frage meint. «Unsere gesprochenen Worte mit einem Grundstock von Handzeichen zu ergänzen, ist bei all unseren Bewohnern sinnvoll, nicht nur bei gehörlosen Menschen», sagt die 45-Jährige. Sie arbeitet seit 16 Jahren als Betreuerin in der Wohngruppe mit den am stärksten beeinträchtigten Bewohner*innen. Sie sind besonders froh um diese zusätzliche Unterstützung beim Kommunizieren. «Es gibt einige, die zwar verstehen, was wir sagen, aber selbst nicht sprechen können. So können sie sich trotzdem mitteilen und am Leben teilnehmen», sagt Martina Bolli und fügt an: «Kommunikation ist Leben.»

Als Botschafterin ist es ihr ein Anliegen, dass sich möglichst viele Betreuer*innen in der arwo Stiftung ein Basiswissen aneignen und diese Handzeichen im Alltag anwenden. Denn Martina Bolli ist überzeugt, dass alle von der Gebärdensprache als Unterstützung profitieren können – nicht nur die paar wenigen mit einer Höreinschränkung. «Besonders jetzt, wo aufgrund des Maskentragens auch ein Teil der Mimik wegfällt.» An der internen Weiterbildung zur unterstützten Kommunikation (UK) werden deshalb neben anderen Hilfsmitteln wie Piktogrammen auch die Handzeichen vorgestellt. Nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. «Der Vorteil ist, dass man die Hände immer dabei hat und dieses Hilfsmittel deshalb immer anwenden kann.»

Das bedingt allerdings, dass im Alltag alle die gleichen Handzeichen anwenden, sodass auch die beeinträchtigten Menschen sie lernen. Man könnte meinen, dass es bei Handzeichen keine Sprachbarrieren gibt und in jedem Land dieselben Gebärden gelten. «So ist es leider nicht, sie variieren in jedem Land, ja sogar jede Region hat ihre eigene Gebärdensprache entwickelt, ähnlich wie die verschiedenen Dialekte.» Aufgrund der sprachlichen und kulturellen Selbstbehauptung war einst auch nicht an eine Zusammenarbeit zu denken. In der Deutschschweiz waren die Handzeichen der Stiftung Tanne und die von Anita Portmann sehr beliebt. «Vielfalt ist grundsätzlich erfreulich und lebensnah. Hier ist es aber wortwörtlich behindernd, wenn gebärdende Menschen nach einem Wechsel der Bezugsperson, der Gruppe, der Klasse oder der Institution nicht mehr verstanden werden und nicht mehr verstehen, weil plötzlich eine andere Gebärdensammlung verwendet wird», sagt Mirko Baur, Gesamtleiter der Stiftung Tanne. Um diesem Gebärden-Wirrwarr, wie Mirko Baur es nennt, zumindest in der Deutschschweiz ein Ende zu setzen, hat sich die Stiftung im Jahr 2016 mit Anita Portmann zusammengetan und eine neue Sammlung herausgegeben, die sowohl Türen öffnet zur Lautsprache wie auch zur Gebärdensprache: die PORTA-Gebärden. Es ist eine gezielte Auswahl der Deutschschweizerischen Gebärdensprache (DSGS). Gewählt wurden besonders häufig benutzte Begriffe und dazu motorisch möglichst einfache, visuell und taktil möglichst eindeutige Gebärden. Sie sind vereinfacht worden, damit sie auch von Menschen mit einer kognitiven und motorischen Einschränkung genutzt werden können. «Das zeigt auch, dass die Selbstbehauptungsbewegung von Menschen mit Hörbehinderung und Gehörlosigkeit in der Schweiz inzwischen an einem ganz anderen Punkt steht als noch vor 30 oder 50 Jahren. Eine Zusammenarbeit in der Entwicklung von PORTA ist sehr gut möglich», sagt Mirko Baur.

Martina Bollis Anliegen ist es nun, diese Handzeichen – aufgrund der Vereinfachung sind es einzelne Wörter und keine ganzen Sätze – in der arwo bekannt zu machen. Sie setzt sich dafür ein, dass die Betreuer*innen rund 80 der 500 PORTA-Gebärden beim Kommunizieren mit Bewohner*innen regelmässig anwenden. «Die meisten dieser Handzeichen sind logisch, man benutzt sie beim Reden manchmal sogar automatisch. Trotzdem muss man sie wie bei einer Fremdsprache immer wieder anwenden, damit man sie nicht vergisst», sagt Martina Bolli, die als junge Frau mit dem Thema konfrontiert wurde. Damals, als sie ihre Ausbildung als Bahnbetriebsdisponentin abgeschlossen hatte und als Praktikantin in eine Institution wechselte, die kognitiv beeinträchtigte Menschen betreute. Der Vater eines jungen Bewohners kommunizierte mit Gebärdensprache mit seinem Sohn. «Ich war fasziniert, als ich merkte, dass er sich dadurch verständigen und am Leben teilnehmen konnte.» Auch die Befürchtung von vielen, dass darunter die Lautsprache leidet, hat sich nicht bestätigt. «Im Gegenteil: Studien belegen, dass sich gebärdenunterstützte Kommunikation bei 80 Prozent der Menschen auch positiv auf die Entwicklung der Lautsprache auswirkt.» Damals begann die heute 46-Jährige die Handzeichen zu lernen und bedauerte, dass nicht in jeder Institution die gleiche visuelle Sprache verwendet wird. Umso mehr freut sie sich, dass mit den PORTA-Gebärden ein grosser Schritt Richtung Vereinheitlichung gemacht wurde. Deshalb setzt sie sich dafür ein, dass sie auch in der arwo Stiftung mehr angewendet werden. Sie selbst will als Vorbild vorangehen. Wenig erstaunlich also, dass sie sich nach dem Interview nicht nur verbal mit «Tschüss» verabschiedet, sondern auch winkend.