Melanie Bär, Journalistin BR
Die arwo beteiligt sich an einem Forschungsprojekt. Das will einerseits aufzeigen, was für Menschen mit Beeinträchtigung ein «gutes Leben» ausmacht. Andererseits soll die Qualität der Angebote mess- und vergleichbar gemacht werden.
Seit einer Stunde ist Regina Klemenz vom Forschungsteam der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu Besuch auf der Wohngruppe Allegra. Sie setzt sich an den Wohnzimmertisch. Dort malt Greta Willax – über einem Malheft gebeugt – Formen aus. Regina Klemenz schaut zu, wie im Zeichnungsbuch ein buntes Muster entsteht. Nach ein paar Minuten legt Greta Willax den Stift weg und schaut die Besucherin freundlich an. «Malst du gerne?», fragt die Sozialpädagogin. «Malen und schwätzen», antwortet die Bewohnerin, die es sichtlich geniesst, dass sich jemand Zeit für sie nimmt und sich mit ihr unterhalten will. Regina Klemenz freut sich über die Offenheit und nimmt eine der auf dem Tisch liegenden Karten. «Wertschätzung, Anerkennung», steht darauf. Sie legt sie nach vorne und fragt bei der Bewohnerin nach, was ihr denn sonst noch wichtig sei. Es liegen noch weitere Karten auf dem Tisch. Darauf steht beispielsweise «die Welt erleben und entdecken», «spielen, lachen, Erholung», «Natur und Tier», «gesund sein – gesund bleiben», «mitreden, mitentscheiden». Greta Willax antwortet nicht, sondern strahlt ihr Gegenüber an. Mit der Hand zeigt Regina Klemenz auf die Karte «Freunde haben, Partnerschaft» und fragt: «Hast du eine Freundin oder einen Freund?» Greta Willax lacht, geht aber auch auf diese Frage nicht ein, sondern erzählt, dass es ihr an diesem Wohnplatz besser gefalle als am vorherigen. Auch die Frage nach dem Warum lässt sie unbeantwortet. Fatlume Hidic, die an diesem Morgen auf der Wohngruppe arbeitet und ebenfalls am Tisch Platz genommen hat, hakt nach: «Gäll, du kommst mit allen gut aus und magst es, dass hier immer etwas läuft?» Greta nickt und umarmt Fatlume Hidic. Sie erwidert die Umarmung und fügt an: «Greta sitzt wie jetzt gerne mitten im Geschehen, auch wenn sie für sich malt. Sie will einfach dabei sein.»
«So wie sie auf die Verbalisierung der Betreuerin reagiert hat, merke ich, dass es anklingt», sagt Regina Klemenz später. Das ist für sie wichtig. Ihre Mission an diesem Morgen: Herausfinden, was für die Bewohner*innen wichtig ist, damit sie ein für sie «gutes Leben» führen können. Das will sie im Gespräch mit den Bewohner*innen herausfinden. Weil sich nicht alle gleich gut selbst mitteilen können, ist sie auf die Hilfe der Betreuer*innen und ihre eigenen Beobachtungen angewiesen.
Die Befragung ist Teil des von der FHNW und Artiset, die sich aus Branchenverbänden im Bereich Behinderung einsetzt, lancierten Projekts, das von Innosuisse unterstützt wird. Die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung will wissenschaftsbasierte Innovation im Interesse von Wirtschaft und Gesellschaft fördern. Das Ziel dieses Forschungsprojekts lautet, das «gute Leben» in Organisationen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Organisationen für Menschen im Alter messen, vergleichen und wirkungsvoll entwickeln.
Dabei gehe es nicht um den einzelnen Menschen, sagt Projektleiter Daniel Oberholzer. Es geht ums grosse Ganze. «Wir wollen definieren, was für die Mehrheit dieser Menschen «gut» bedeutet und Messgrössen schaffen, die sich vergleichen lassen.» Verglichen werden Angebot und Qualität. So sollen Organisationen herausfinden, wo sie im Vergleich zu anderen im Markt stehen und was dort überhaupt gefragt ist. Für die Bewohner*innen hätte das den Vorteil, dass sie einfacher als heute herausfinden können, welche Organisation am besten zu ihren Bedürfnissen passt. Entsprechend können sie entscheiden, welche Angebote sie wo in Anspruch nehmen wollen.
Roland Meier, Geschäftsführer der arwo Stiftung, ist überzeugt, dass diese Sichtbarkeit auch im Sinne der Organisationen ist. «Unsere Branche ist im Wandel. Die Bewohner*innen wollen immer gezielter auswählen können. Das wird noch wichtiger, wenn von der Objekt- zur Subjektfinanzierung gewechselt wird.» Dann, wenn Bewohner*innen die Dienstleistungen, die sie in Anspruch nehmen, beliebig zusammenstellen können und dabei auch verschiedene Anbieter berücksichtigen dürfen. Um sich als Unternehmen gut zu positionieren, müsse es wissen, was bei wem gefragt sei, die Zielgruppe ansprechen und noch besser auf ihre Bedürfnisse eingehen. «Durch das Fremdbild erfahren wir zudem, wo wir stehen, wo wir besonders punkten und uns spezialisieren können und was wir besser anderen Organisationen überlassen sollten», so Roland Meier. Der Nutzen dieser Studie sei hilfreich, sodass die Geschäftsleitung bei der Anfrage schnell zugesagt habe, daran teilzunehmen. «Es geht nicht darum zu bewerten, wer besser arbeitet, sondern welche Angebote, die ein gutes Leben ausmachen, bei welcher Organisation mit welchem Qualitätsversprechen angeboten werden», doppelt Professor Oberholzer nach.
Vorerst konnten sich 10 ausgewählte Organisationen im Behinderten- und Altersbereich am Projekt beteiligen. Ist es erfolgreich, will man es breiter abstützen, damit die Parameter noch aussagekräftiger werden. Davon würden auch die Bewohner*innen profitieren, die sich bei den Wahlkriterien im Moment vorwiegend auf die Informationen stützen müssen, die die Organisationen auf ihren Websiten versprechen.
Noch wird es einen Moment dauern, bis ein mögliches Resultat vorliegt. Das Projekt ist im Sommer gestartet. Nach dem Zusammentragen der Informationen und Daten, die Regina Klemenz und ihre Kolleg*innen vor Ort und mittels Fragebogen auch schriftlich eingeholt haben, werden diese nun analysiert. Gelingt es, daraus ein System zur Mess- und Vergleichbarkeit zu entwickeln, könnte es für Bewohner*innen einfacher sein, die Institution zu finden, die ihre Bedürfnisse am besten abdeckt.
Ein fundiertes Feedback liegt auch bei der arwo noch nicht vor. Die Rückmeldung von Sozialpädagogin Regina Klemenz nach ihrem Besuch in der arwo stimmt jedoch zuversichtlich: «Es wird wertschätzend mit den Bewohner*innen umgegangen. Auch wenn die Räume zum Teil älter sind, wirken sie persönlich. Man spürt die vielen Bemühungen, die Wohnung gemeinsam mit den Bewohner*innen zu einem Daheim zu machen.»